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Ein Besuch, 5 Kilo
oder
Das Leben kann so hart sein

Ich habe oft versucht, die Gastfreundschaft und das Wesen der Slowaken in Worte zu fassen, bisher ist es mir noch nicht so richtig gelungen. Da fand ich im Slovak Spectator, der englischsprachigen Zeitung in der Slowakei folgende Geschichte von Jessica Redmond, die auf unvergleichliche Art und Weise einen Einblick in slowakische Gastfreundschaft gibt.

Ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt und die Genehmigung erhalten, diese Geschichte auf meiner Homepage zu veröffentlichen. Hierfür auch an dieser Stelle nochmal meinen herzlichsten Dank.

Für die, die die Geschichte im Original in Englisch lesen möchten, habe ich unten den Link zur Geschichte im Archiv des Spectators eingefügt.




Von Jessica Redmond
Original geschrieben für den "Slovak Spectator"
Übersetzt von Ulli für UllisWelt.com
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin



Der Kulturschock: Ein Besuch, 5 Kilo



Mit einer italienischen Großmutter auf einer Seite der Familie und einer jüdischen Großmutter auf der anderen, bin ich es gewohnt, dass man mir erklärt, dass ich meinen Teller leer zu essen habe. Jüdische und italienische Mütter und Großmütter haben sich ihren verdienten Platz in der Geschichte erworben als schlechteste Ratgeber der Welt in Bezug auf Essen, die Essen über die reine Befriedigung des Hungers stellen und dem Gast das Gefühl vermitteln, er sei schuldig, wenn er das dritte Stück Kuchen ablehnt.

Wie kann ich es ihnen nur möglichst schonend vermitteln, dass sie ihren Titel verloren haben? Traurige Großmütter; sie sind nichts gegen Slowakinnen!

Ich entdeckte die wirkliche Wärme der slowakischen Gastfreundschaft während eines Besuchs mit Freunden in der Ostslowakei. In weniger Zeit als ich brauchte um meine Schuhe auszuziehen, erschien eine überfüllte Platte mit Walnuß Kolác (Kuchen) aus dem Nichts heraus. Als Anhängerin des Mottos 'den Nachtisch zuerst', errregte ich Wohlgefallen bei meinen Gastgebern indem ich herzhaft zulangte. Dies war ein Fehler, ich hatte die goldene Regel des Gastseins in der Slowakei vergessen: Halt dich zurück, dort kommt noch mehr.

Kuchen ohne Ende Zurückhaltung ist während jeden Besuchs in einem slowakischen Haushalt geraten. Egal wie feucht das Brot, egal wie köstlich das Gebäck ist, eines darf man nie, unter keinen Umständen, zu viel nehmen am Anfang eines Besuches.

Dies hat zwei Gründe:
Erstens: sobald ein slowakischer Gastgeber gesehen hat, dass es dem Gast gut schmeckt, wird die gleiche Begeisterung für alles, was noch folgt, erwartet. Wird eine solche ununterbrochene Begeisterung nicht gezeigt, so wird dies als Unzufriedenheit gedeutet.

Zweitens: Gäste sollten in ihrem eigenen Interesse den Gastgeber immer in dem Glauben lassen, man sei nicht fähig, derartige Mengen zu essen. Nur so kann der Gast Vergebung erwarten, wenn ihm in der Folge des Essens ein Fehler unterläuft, z. B. nicht so viel zu essen, wie der Gastgeber erwartet. Sobald die Gastgeber wissen, sie können essen, wird auch erwartet, dass sie immer größer werdende Portionen essen.

Ich bin ja kein Anfänger in diesem System, also hätte ich es besser wissen müssen. Nachdem ich bereits von den einigen Stücken Kolác, die ich mit großem Genuss gegessen hatte, gut gesättigt war, fingen meine Gastgeber an, den Tisch für das Abendessen zu decken. Die Babka (Großmutter) brach fast zusammen unter dem Gewicht meines schwer beladenen Tellers, auf dem ein Berg aus reichlich Kartoffeln und Reis angehäuft war, genug um einen halbverhungerten Schwerstarbeiter zu sättigen, und darauf war noch mindestens die Hälfte eines wohlgenährten Huhnes als Krönung gepackt.

Diesen ungeheuten Berg betrachtend, fragte ich mich, wie ich es wohl schaffen würde, eine Gabel voll aus diesem Gebilde zu nehmen, ohne das empfindliche Gleichgewicht zu stören, das diese Masse aus Proteinen, Kalorien und Stärke vor dem Überlaufen über den Rand des überladenen Tellers abhielt.

"Výborné!" (Großartig!) rief ich nach dem ersten Bissen aus. Ich meinte es ehrlich; es war wirklich großartig. Ich genoss jeden Bissen - alle 1.637 von ihnen - aber irgendwo um Bissen 1.638 herum verließ mich die Kondition.

Ich schob meinen immer noch halbvollen Teller von mir weg und fing an mich zu entschuldigen und aufrichtig zu versichern, dass die Mahlzeit köstlich gewesen war, ich jedoch nun so satt sei, dass ich nicht auch nur einen Bissen mehr essen könne.

Babka blickte zu ihrer Tochter, dann zurück auf mich und warf mir einen so schuldzuweisenden Blick zu, dass meine jüdische Großmutter - der kein schuldzuweisender Blick fremd war - zur absoluten Anfängerin gestempelt wurde.

"Sie mochten es nicht," sagten sie im Chor. "ich hätte besser Pirohy (wohlschmeckende Apfel-/Pfirsichtaschen) gemacht", sagte die Babka und bezog sich die auf köstliche Mahlzeit, die ich anlässlich meines letzten Besuches hatte. "Ich kann sie schnell machen," bot sie an, "es dauert nur eine Minute. Raz, dva ('eins, zwei' - schnell wie der Blitz)."

"Nein, bitte nicht" kam mein verzweifelter Versuch mich zu wehren, da meine ganze Energie benötigt wurde, die "Essensbombe", die gerade in meinem Magen gelandet war, zu verarbeiten. Wir debattierten die Frage eine Stunde lang, während deren ich irgendwie zum Schlucken einiger weiterer Stücke Kolác gezwungen wurde, von denen jedes durch meinen vollen Bauch mit Protestlauten belegt wurde, und der, wenn es möglich wäre, oben ein Fahne mit großen Buchstaben herausgehängt hätte mit der Aufschrift: "Keine Freie Stelle mehr!"

In den drei weiteren Stunden des Besuchs wurde mir das Folgende angeboten: Ein voller Teller mit Schinken, ein voller Teller mit Käseköstlichkeiten, der halbe Teller des Hauptgerichts, den im ersten Anlauf nicht geschafft hatte, noch mehr Kolác (drei verschiedene Arten) und Früchte.

Irgendwie hab ich all dieses dann doch irgendwie noch in mich hineingezwängt, aber die Babka schüttelte nur traurig ihren Kopf und sagte, "aber Sie sind noch hungrig." Hungrig? Wie konnte sie denken ich sei noch hungrig? Ich werde nicht in der Lage sein, in der nächsten Woche überhaupt irgendetwas zu essen!

Als ich ging, war die Familie enttäuscht, dass ich sie so offensichtlich ungesättigt verließ, beladen mit genügenden Nüssen, Äpfeln und Kolác um ein großes Dorf für einen Monat durchzufüttern. Ich rollte mit meinem eben erweiterten "Rettungsring" aus der Tür und versprach, während meines nächsten Besuches in der Slowakei wieder vorbei zu kommen. Dies sollte frühestens in einigen Monaten sein; ich denke, ich werde jetzt besser schon einmal anfangen zu fasten.

[ 10/28/2002 ]